Seine Hände liegen auf der weißen Tragfläche. Unter ihm der weiche Grasboden des Flugplatzes. Neben ihm Lars. Sie schieben das Flugzeug zurück zur Startposition. Beide haben noch ihre Fallschirme umgeschnallt. Lars ist aufgeregt. Sein Fluglehrer Michael auch. Lars spürt, dass er – vielleicht schon heute – reif ist für seinen ersten Alleinflug.

Er hat jetzt 84 Mal Starts und Landungen geübt. 84 Mal sich den Fallschirm umgeschnallt, die Sichtprüfung am Flugzeug durchgeführt, auf dem vorderen Sitz Platz genommen, sich korrekt angeschnallt, Seiten-, Höhen- und Querruder geprüft und dem am Flugzeug wartenden Kollegen den Daumen hoch gezeigt. Dieser hat daraufhin das Schleppseil eingehängt und kurze Zeit später wurde Lars mit seinem hinten sitzenden Fluglehrer wie auf einem Katapult in die Höhe geschleudert.

Lars hat mit dem Steuerknüppel das Segelflugzeug waagerecht gehalten und ist ab etwa 40 Metern Höhe in den Steigflug übergegangen. Am Ende des Windenseil-Starts klinkte sich das Seil von selbst aus und Lars hat sicherheitshalber noch dreimal die manuelle Auslösung betätigt. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn das Flugzeug noch am Seil hängen würde und der Pilot versucht, wegzufliegen.

Lars hat dann die „Platzrunde“ absolviert und rechtzeitig den Landeanflug eingeleitet. Er hat geprüft, ob die Flugroute im Anflug frei ist und ob auch auf der Landebahn selbst kein anderes Flugzeug steht. Dann hat er das Flugzeug in einem kontinuierlichen Sinkflug auf den Landepunkt zugesteuert und kurz über dem Boden „abgefangen“ und sanft und sicher gelandet.

84 Mal ohne irgendwelche Schwierigkeiten. Fast zumindest. Bei den letzten 10 Starts war Lars zunehmend unaufmerksamer, hat gedacht, er kann schon alles und hat auch den einen oder anderen Fehler gemacht. Nichts Gravierendes, aber eben auch keine Kleinigkeiten, die man einfach ignorieren kann.

Eben hat Lars dann die letzte „Seilrissübung“ absolviert. Hierbei klinkt der im Doppelsitzer hinten sitzende Fluglehrer während des Seilwindenstarts ohne Vorwarnung das Schleppseil aus. Der Pilot, in diesem Fall der Flugschüler Lars, muss das Flugzeug aus dem Steigflug sofort in eine horizontale Fluglage bringen und dann, abhängig von Höhe, Wind, Standort, innerhalb von wenigen Sekunden entscheiden, wie er das Flugzeug wieder sicher auf den Boden bringt. Dass das Schleppseil reißt, kann immer mal passieren. Jeder angehende Pilot muss damit umgehen können. Lars hat die Übung ohne Schwierigkeiten gemeistert und den Flieger nach einer verkürzten Platzrunde sicher gelandet.

Paul, der Fluglehrer-Kollege, hatte heute Morgen einen Flug mit Lars durchgeführt und Michael sein OK für den ersten Alleinflug gegeben. Formal sind jetzt alle Voraussetzungen erfüllt.

Die letztendliche Entscheidung muss aber Michael treffen. Michael, der mit Lars mehr als 60 Mal im Flieger saß und damit am besten wissen sollte, ob er das denn jetzt kann. Aber kann Michael sich denn sicher sein?

„Wenn ich Lars nun allein fliegen lasse“, überlegt Michael, „dann werde ich nicht mehr eingreifen können, falls er eine Dummheit macht. Und ich werde ihm nicht helfen können, falls etwas Unvorhergesehenes passiert. Er ist dann allein auf sich gestellt. Was, wenn er dann falsch handelt? Was, wenn dann etwas passiert? Dann werde ich möglicherweise dem Verein erklären müssen, warum wir ein kaputtes Flugzeug haben. Und den Eltern, warum ihr Sohn verletzt ist. Oder tot. Es kann beim Fliegen gleich so viel passieren, wenn mal etwas schiefgeht. Darauf sind wir alle getrimmt. 100% Sicherheit. Aber die gibt es nicht. Lars hat jetzt 84 Starts und Landungen, keine 5.000 wie ich. Und er hat erst wenige Flugstunden insgesamt. Und trotzdem bedeutet der Alleinflug, dass er alles genauso gut beherrschen muss, wie ein erfahrener Pilot. Was ist, wenn Lars ohne Fluglehrer aufgeregt und panisch wird und Fehler macht? Was ist, wenn bei Start 85 etwas Unvorhergesehenes passiert, das nur ein Pilot mit 1000 Starts souverän beherrschen kann?“

Was, wenn? Michael ist ein erfahrener Fluglehrer. Er weiß, dass er alles richtig gemacht hat. Und er weiß, dass es – auch im Flugsport – trotz wirklich vorbildlichsten Sicherheitskonzepten zu schweren Unfällen kommen kann. Wenn Lars jetzt etwas zustößt, müsste Michael dann der Familie von Lars, seinen Freunden, seinen Lehrern und auch sich selbst, erklären, warum er den Alleinflug zugelassen hat. Und dann würden die Unsicherheiten in den letzten 10 Flügen plötzlich aus einer ganz anderen Perspektive wahrgenommen werden.

Wenn er Lars jetzt nicht allein fliegen lässt, wird dieser ziemlich sicher noch mehr Fehler machen. „Überschult“ nennt man das. Mit jedem weiteren Start von Lars wird seine Zuverlässigkeit sinken. Mit jedem weiteren Start wird Michael es weniger verantworten können, Lars allein fliegen zu lassen.

Der einfachste Weg wäre jetzt, Lars nicht allein fliegen zu lassen. Dann muss Michael sich seiner Angst nicht stellen. Aber dann wird Lars vermutlich niemals ein Pilot.

Wenn Michael sich jetzt zusammenreißt, daran denkt, was er Lars alles beigebracht hat und wie vorbildlich dieser alles aufgenommen hat. Und mit der Erfahrung von Michael, dass ein Flugschüler beim ersten Alleinflug über sich hinauswächst und alles mehr als perfekt durchführen wird, dann bleibt die Angst beherrschbar. Aber sie bleibt.

Und er, Michael der Fluglehrer, wird dafür verantwortlich sein, wie der erste Alleinflug von Lars am Ende ausgeht. Und er wird zu dieser Verantwortung stehen müssen.

Michael geht auf Lars zu. Demonstrativ zieht er seinen Fallschirm aus und bedeutet Lars, in das Flugzeug zu steigen. Allein natürlich.


Wann haben Sie das letzte Mal einer Ihrer Mitarbeitenden so vertraut wie Michael seinem 15-jährigen Flugschüler, damit diese sich entwickeln und über sich hinauswachsen konnte?

Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Angst ausgehalten für das Wachstum einer Ihrer Mitarbeitenden?

Ich denke, eine der wichtigsten Eigenschaften guter „Leader“ ist, für andere da zu sein. Ihnen den Boden zu bereiten, dass sie ihre Aufgaben optimal erledigen können. Da kann man viel in der Kultur und in der Organisation etablieren, damit das gut funktioniert.

Aber damit verbunden ist immer auch die Bereitschaft, Fehler der Mitarbeitenden notfalls in Kauf zu nehmen und dann für diese Fehler einzustehen. So, als ob man sie selbst gemacht hätte. Eine Tugend, die zunehmend in Vergessenheit gerät.


Lars hat seinen ersten Alleinflug vorbildlich absolviert und alles ist gutgegangen.

Aus dem eher schüchternen, zurückhaltenden 15-jährigen Flugschüler wurde innerhalb von 5 Minuten ein selbstbewusster, strahlender junger Pilot mit großen Plänen. Danke, Michael.

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