Unsere heutige (Leistungs-)Gesellschaft ist ohne das Gedankenkonstrukt “erfolgreich sein” nicht vorstellbar. Wir messen uns als Teil dieser Gesellschaft daran, ob wir ein erfolgreiches Leben führen oder geführt haben, ob wir im Beruf erfolgreich sind, ob wir unsere Träume verwirklicht haben oder ob wir uns im Zusammenleben mit anderen Menschen durchgesetzt haben.
Für mich stellen sich an dieser Stelle zwei wesentliche Fragen:
- Ist diese Erfolgsorientierung überhaupt gut für uns?
- Und wenn das Streben nach Erfolg schon ein wesentlicher Teil unseres Lebens sein soll, woran mache ich denn dann Erfolg eigentlich fest?
Wir brauchen Erfolgserlebnisse, um bei psychischer Gesundheit zu bleiben
Unbestreitbar ist, dass es auch für erwachsene Menschen wichtig ist, Erfolge zu haben. Das positive Gefühl, etwas erreicht zu haben, also erfolgreich gewesen zu sein, motiviert uns, gibt uns Energie und hilft uns auch über den nächsten Misserfolg hinweg. Dieses Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit ist eine Säule für ein gesundes Selbstwertgefühl. Und nun ja, uneingeschränktes Selbstwertgefühl ist schon eine sehr grundlegende Eigenschaft für ein glückliches, friedvolles, psychisch gesundes Leben.
Grundsätzlich ist man also gut beraten, sich Erfolgserlebnisse zu suchen. Das dabei entstehende positive Gefühl ist eine solide Basis, um gute Entscheidungen zu treffen und andere Menschen mitzureisen. Eine regelmäßige Dosis “Erfolg” sollte das eigene berufliche und auch private Umfeld mit sich bringen.
Gefährlich ist daran nur, dass das Streben nach Erfolg auch zu einer Sucht werden kann. Wir brauchen dann permanent diesen Kick, etwas bewirkt zu haben. Jeder Haken in der ToDo-Liste tut gut, ich suche aktiv nach Aufgaben, die ich sicher erledigen kann, um hieraus wieder etwas von der Droge “Erfolg” zu bekommen. Und ich fühle mich unwohl, wenn es nichts abzuhaken gibt.
Im Radical Brilliance – Kreislauf von Arjuna Ardagh, der verschiedene Zustandsstufen unseres Bewusstseins auf dem Zifferblatt einer Uhr anordnet, wird dies als “6-Uhr-Sucht” bezeichnet. 6-Uhr ist dort der Zustand des Abarbeitens. Und in der Tat, kann es sehr schwierig werden, sich aus diesem Zustand auch einmal wieder auszuklinken: Zu viele Dinge gibt es noch, die erledigt werden müssen; es tut so gut, im “Doing” zu sein…
Wenn es mir also gelingt, mir regelmäßig Erfolgserlebnisse zu verschaffen, ohne süchtig danach zu sein, werde ich dann ein erfolgreiches Leben führen können?
Das wäre schon mal ein guter Schritt. Ich glaube aber, dass die Frage, was ein erfolgreiches Leben ausmacht, an anderer Stelle gemessen wird. Da wäre einmal die Bilanz, die man am Ende seiner Berufslaufbahn zieht oder die ganz große Bilanz am Ende des eigenen Lebens. Da dann, wenn Bilanz gezogen wird, nichts mehr geändert werden kann, macht es durchaus Sinn, sich schon heute zu fragen, wie denn die Bilanz aussehen wird und wie sie denn aussehen könnte.
Die Rede zum eigenen Begräbnis erdet und gibt Orientierung zurück
Eine sehr hilfreiche Übung ist das Schreiben der Ansprache zur eigenen Trauerfeier. Nicht ganz angenehm, zugegeben. Aber eine wunderbare Aufgabe, um Zwischenbilanz zu ziehen und um sich wieder zu fokussieren. Nichts besser, als vom Ergebnis her das eigene Leben zu betrachten und aufzuziehen. Plötzlich wird einem (wieder einmal) bewusst, dass man nur dieses eine Leben hat und deshalb gut beraten ist, sich gut zu überlegen, was man daraus macht. Plötzlich tauchen die eigenen Träume oder irgendwann einmal selbst gesteckten Ziele wieder auf und man kann sich orientieren, wo man auf dem eigenen Weg angekommen ist. Aus dieser Zwischenbilanz heraus kann man dann justieren. Der eingefahrene, oft sehr kurzfristig orientierte, eigene Erfolgsfokus erweitert sich um die verbleibende Lebenszeit.
Wenn ich versuche, die innere Stimme zu finden, werde ich herausfinden, was mein Leben zu einem wirklichen Erfolg macht.
Als ich selbst das erste Mal die Übung der Rede zur Trauerfeier machte, meldete sich jemand in mir.
Diesen “Jemand” hörte ich sagen:
- 100 erfolgreiche Projekte können keine intakte Familie ersetzen!
- Auch 100 erfolgreiche Projekte machen nicht wirklich glücklich!
- 100 erfolgreiche Projekte sind toll, aber das 101te Projekt könnte all diesen Erfolg wieder zerstören!
- War das alles wirklich Deine Idee?
Und noch ganz viele andere Fragen wurden mir da gestellt. Meine innere Stimme hatte es geschafft, durchzudringen. Nur mit diesen fiesen Fragen, noch nicht wirklich mit neuen Ideen. Sie zu hören ist etwas, das viel Übung erfordert und für das uns (mindestens im Berufsleben) niemand trainiert hat. Die innere Stimme ist ja im Arbeitsalltag auch lästig. Sie würde sich ja, gäbe man ihr Raum, zwischen uns und die zu erledigenden Aufgabe drängen und möglicherweise viele fiese Fragen stellen. Und deshalb müssen wir alle wieder lernen, sie zu hören. Das erfordert Zeit und Hartnäckigkeit. Für Committed Leaders eine lohnenswerte Aufgabe.
Der Brief an meine Enkel verschafft der inneren Stimme Gehör
Eine sehr hilfreiche Übung, die innere Stimme in Bezug auf Ihre Lebensplanung zu hören, ist der Brief an Ihre Enkel, den Sie wahlweise als Brief oder als Audionachricht verfassen können. Wenn Sie keine Kinder haben, adressieren Sie Ihre Botschaft an die Generation Ihrer Enkel, wenn Sie denn Kinder hätten.
Nehmen Sie sich ausreichend Zeit (90 Minuten sollten reichen) und suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie absolut ungestört sind. Stellen Sie Ihr Handy in den Flugmodus. Am allerbesten gehen Sie raus in die Natur. Die ersten 45 – 60 Minuten sollten Sie jetzt dazu nutzen “runterzukommen”. Hören Sie auf Ihren Atem, auf die Geräusche um Sie herum. Versuchen Sie, die Stille des Raumes wahrzunehmen und saugen Sie die große Kraft, die von ihr ausgeht, auf. Wenn Sie in der Natur sind, betrachten Sie die Bäume, die Blumen, die Wolken am Himmel. Hören Sie auf das Zwitschern der Vögel, auf die Wellen des Wassers und den Wind.
Wenn Gedanken auftauchen, lassen Sie diese einfach ziehen. Für diese Übung sind Sie der Himmel und alle Gedanken sind die Wolken, die vorüberziehen. Kleine Wölkchen genauso wie Gewitterwolken. Lassen Sie sie ziehen. Keine kann Ihnen etwas anhaben, denn Sie sind ja der Himmel.
Und wenn Sie dann ganz bei sich angekommen sind, legen Sie los. Schreiben Sie auf ein Blatt Papier oder diktieren Sie in Ihr Mobiltelefon das, was Sie Ihren Kindern und Enkeln sagen möchten. Was Sie ihnen erklären möchten. Aber auch, was Sie als Fußabdruck in der Welt ihnen hinterlassen möchten. Hören Sie nicht auf. Schreiben oder reden Sie mindestens 15 Minuten lang. Versuchen Sie bloß nicht, Ihren Text irgendwie zu strukturieren. Es geht einzig und allein darum, dass Ihre innere Stimme sprechen darf. Und die ist selten überlegt oder strukturiert.
Wenn Sie dann fertig sind, genießen Sie, seien Sie stolz auf sich. Denn das eben, das war ein großer Schritt hin zu einem wirklich erfolgreichen Leben.
Für die Kenner der Managementliteratur: Der amerikanische Autor Steven R. Covey hat mit seinem Buch “Die 7 Wege zur Effektivität” (Originaltitel: The 7 Habits of Highly Effective People) ein Grundlagenwerk für das Selbstmanagement von Führungskräften geschaffen, das inzwischen mehr als 30 Millionen mal verkauft und in 38 Sprachen übersetzt wurde. Weg 2 der von ihm postulierten 7 Wege lautet “Schon am Anfang das Ende im Sinn haben.” Covey meint damit, dass man seine Lebensplanung so aufsetzen sollte, dass man immer vor Augen hat, das einem nur begrenzte Lebenszeit zur Verfügung stehen wird und man deshalb sein Handeln danach ausrichtet, was man am Ende des Lebens wirklich erreicht haben möchte. Als Übung hierfür empfiehlt auch er das Schreiben der Rede zur eigenen Trauerfeier. Dieses Buch ist erstmals im Jahr 1989 erschienen. Im Jahr 2004, also erst 15 Jahre später, ergänzt Covey die sieben Wege um einen achten Weg “Auf die innere Stimme hören”. Er hat erkannt, wie wichtig diese innere Stimme ist und wie schwierig es ist, sie zu vernehmen.
